Neulich stieß ich bei einem Kunden wieder auf eine Situation, die ich irgendwann einmal als „Abilene-Paradoxon“ kennen gelernt habe. Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, habe ich mir in etwa gemerkt, sie illustriert wunderbar ein Verhalten von Gruppen, das wir alle kennen:
Eine Familie sitzt an einem heißen Sommersonntag in Texas um den Terrassentisch und spielt Domino. Plötzlich sagt ein Familienmitglied „Lass uns zusammen nach Abilene fahren“. Der Familienvater denkt: „Was? 58 Meilen im Auto ohne Klimaanlage? – Darauf habe ich keine Lust.“ Er lässt sich seine Ablehnung nicht anmerken. Seine Frau aber stimmt zu, ohne selbst überzeugt zu sein: „Ja, lass uns nach Abilene fahren – was ist mit dir, Frank?“ Der Familienvater stimmt gegen seinen Willen zu: „hört sich gut an, aber ich bin mir nicht sicher, ob Oma auch mit will“. Doch diese stimmt zu: „Natürlich will ich mit – ich war schon lange nicht mehr in Abilene.“
Also fährt die Familie los, in die Hitze.
Fünf Stunden und 116 Meilen später, erschöpft und verschwitzt zurück am Ausgangspunkt, lobt der Familienvater den schönen Ausflug – niemand antwortet. Irgendwann antwortet die Großmutter: „Um ehrlich zu sein, es hat mir keinen Spaß gemacht und ich wäre lieber hier geblieben.“ Es stellt sich heraus, dass niemand wirklich nach Abilene wollte, sondern nur vorauseilend und vermeintlich dem Wunsch des anderen gefolgt ist bzw. nicht widersprochen hat. Jeder für sich hätte lieber weiter Domino gespielt.
Paradoxe Situationen in Unternehmen
Solche paradoxen Situationen gibt es auch in Unternehmen. Oft sogar in Projektumgebungen, in denen auf der Basis von Statusberichten Entscheidungen getroffen werden müssen. Diese Entscheidungen fallen oft anders aus, als es das Unternehmen und alle Beteiligten eigentlich wollten.
In solchen Fällen weiß jeder Beteiligte für sich, was richtig ist. Häufig ist jedoch keiner der Beteiligten in der Lage, in einer Gruppensituation seine wirkliche Meinung zu äußern. In manchen Fällen verhält sich der Einzelne sogar entgegengesetzt zu dem, was er für richtig hält (wie die oben beschriebene Familie in Texas). Damit führen sie die Gemeinschaft auf einen falschen Weg – und das wiederum führt bei allen Beteiligten zu Frustration und Wut auf die Organisation selbst oder sogar auf andere Personen oder Gruppen („typisch X, der trifft immer die falschen Entscheidungen oder gibt die falschen Ratschläge“ – obwohl X eigentlich ganz anderer Meinung ist).
Bei einem unserer Kunden zeigte sich dies am Ampelstatus eines Projekts, den der Projektleiter eigentlich auf „rot“ setzen wollte. Der Projektleiter ging jedoch fälschlicherweise davon aus, dass sein Vorgesetzter und dessen Vorgesetzte den Ampelstatus des Projekts lieber auf „grün“ sehen wollten (de facto wollte der Vorgesetzte das Projekt eigentlich stoppen, hatte aber bei einem grünen Status keinen zwingenden Grund dazu). Also schlug der Projektleiter seinem Team in der Projektbesprechung vor, den Status auf „grün“ zu setzen. Unsere Kollegen hatten jedoch von den einzelnen Teammitgliedern erfahren, dass alle dieses Projekt eigentlich auf „rot“ setzen wollten. Aus vermeintlicher Rücksichtnahme auf den Projektleiter wurde daher in der Projektbesprechung der Status einstimmig auf „grün“ gesetzt – gegen den eigentlichen Willen aller Beteiligten.
Psychologie als Grundlage des Abilene-Paradoxons
Was führt zu einem solchen Verhalten? Die Psychologie hat verschiedene Gründe dafür gefunden, am plausibelsten erscheinen mir a) eine allgemeine Handlungsangst („nur immer mitschwimmen“), b) eine Trennungsangst („dann stehe ich evtl. alleine in der Gruppe da“) und c) eine allgemeine Risikoaversion („wenn wir uns nicht gemeinsam – evtl. für das Unbekannte – entscheiden, dann muss ich alle Risiken alleine tragen“).
Was kann nun gegen das Auftreten des „Abilene-Paradoxons“ getan werden? Aus meiner Sicht gibt es hier den schnellen und einfachen Weg (der in der o.g. Kundensituation funktioniert hat): durch Personen, die nicht Teil des Systems (der Gruppe) sind, also sowieso nicht mitschwimmen, keine Trennungsangst und aus ihrer Aufgabe/Rolle heraus keine Handlungsangst haben. Sie sind in der Lage, das auszusprechen, was die Teammitglieder für richtig halten – sie haben nichts oder nicht viel zu verlieren. Häufig sind dies externe Berater, die unangenehme Dinge aussprechen und Handlungsmuster durchbrechen können, ohne von der Gruppe ausgegrenzt zu werden.
Der lange und steinige Weg ist die Schaffung einer Organisationskultur, die Gruppenzwänge, Nichtangriffspakte und Risikoscheu als negative Einflüsse überwindet und zu einer offenen Diskussionskultur findet, in der jeder seine Meinung klar und frei äußern kann, ohne moralische oder disziplinarische Konsequenzen befürchten zu müssen. Eine solche Organisationskultur ermöglicht es Unternehmen auch, sich agiler an externe Einflüsse anzupassen und stabiler in unruhigen Zeiten zu agieren.
Aber ich denke, wenn man dieses Verhaltensmuster kennt, ist der erste Schritt getan, um das Abilene-Paradoxon in Zukunft zu vermeiden.