Dieser Artikel ist im Original zuerst im Ärzteblatt erschienen. Autoren sind Dr. med. Philipp Stachwitz, Berlin, Jürgen Albert, Dezernat Telemedizin und Telematik, Bundesärztekammer, Berlin, Priv.-Doz. Dr. med. Christian Juhra, Universitätsklinikum Münster, Prof. Dr. Oliver Schöffski, MPH, Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement der Universität Erlangen-Nürnberg. Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Heiner Bachmann von NOVEDAS, Judith Born, Nina Meszmer und Thomas Adelhardt.
Die Benutzerfreundlichkeit der Praxis- und Krankenhaussoftware ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Notfalldaten-Management in der medizinischen Routine. Das hat die Auswertung des Modellprojekts NFDM-Sprint ergeben.
Aus Untersuchungen der letzten Jahre geht hervor, dass Informationen zu Diagnosen, Medikation, Allergien/Unverträglichkeiten und Hinweise auf Besonderheiten aus ärztlicher Sicht eine sinnvolle Unterstützung bei der Behandlung unbekannter Patienten in Notfallsituationen darstellen. Hilfreich sind zudem Kontaktdaten von Angehörigen und behandelnden Ärzten. So sahen bei einer 2010 im Auftrag der Bundesärztekammer (BÄK) durchgeführten Repräsentativbefragung von 598 Ärzten 76 Prozent der Befragten in der elektronischen Speicherung von Notfalldaten einen „sehr großen“ oder „großen Nutzen“. Auch die 2014 durchgeführte Validierung des von der BÄK für die elektronische Gesundheitskarte (eGK) zusammengestellten Notfalldatensatzes ergab „eine hohe Nutzenbewertung“, bei der die Notärzte beziehungsweise Ärzte in Notaufnahmen dem Gesamtkonzept Notfalldaten auf der eGK zu 92,8 beziehungsweise 100 Prozent einen „sehr großen“ oder „großen Nutzen“ attestierten . Notfallmediziner betonen zudem den Wert von Vorinformation etwa zur Medikation bei der korrekten Risikoklassifizierung älterer Traumapatienten mit Antikoagulantien oder Thrombozytenaggregationshemmern in der Vorgeschichte.
Entsprechend hoch sind die Erwartungen an das Notfalldaten-Management (NFDM), das im Jahr 2018 als erste freiwillige medizinische Anwendung der eGK verfügbar sein soll. Die Notfalldaten können in Notfallsituationen aber nur dann ihren Nutzen entfalten, wenn ein Arzt sie zuvor auf Wunsch des Patienten auf der Karte gespeichert hat. Schenkel et al. postulierten daher, dass der Erfolg des Gesamtkonzepts des künftigen Notfalldaten-Managements mit der eGK maßgeblich von der Akzeptanz des Anlageprozesses abhängt und dass „Ärzte bei der Anlage der Notfalldaten durch das Praxisverwaltungssystem (PVS) unterstützt werden müssen“.
Projekt zur Praxistauglichkeit
Die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) erprobte daher unter fachlicher Federführung der BÄK im Jahr 2016 unter dem Titel „NFDM-Sprint“ die Anlageprozesse von Notfalldatensätzen (NFD) und Datensätzen mit persönlichen Erklärungen (DPE). 25 Hausärzte und sechs Fachinternisten aus Münster und Umgebung sowie sieben Krankenhausärzte (Chirurgen, Internisten) des Universitätsklinikums Münster (UKM) legten über einen Zeitraum von sechs Monaten 2 598 NFD sowie 573 DPE an. Für zwölf Patienten wurden ausschließlich DPE angelegt.
Die eGK kam in diesem Projekt noch nicht zum Einsatz, stattdessen erhielten die Patienten einen Ausdruck ihrer Datensätze. Die niedergelassenen Ärzte nutzten jedoch für den Anlageprozess ihr bekanntes, vom Hersteller um die notwendigen Funktionen zur Anlage von NFD und DPE erweitertes PVS (InterARZT®). Die Krankenhausärzte legten die Datensätze mit dem im UKM eingesetzten und durch die IT-Abteilung für die Studie angepassten Krankenhausinformationssystem (KIS) AgfaORBIS® an.
Die beteiligten 38 Ärzte und 26 Medizinischen Fachangestellten (MFA) wurden vor, während und nach dem Anlageprozess in leitfadenbasierten Telefoninterviews durch Mitarbeiter des Lehrstuhls für Gesundheitsmanagement der Universität Erlangen-Nürnberg unter Leitung von Prof. Dr. Oliver Schöffski zu Akzeptanz und Praxistauglichkeit des Anlageprozesses befragt. Hinzu kam eine schriftliche anonyme Befragung einer Stichprobe von 1 000 betroffenen Patienten mit einem Rücklauf von 298 Fragebögen.
Die inhaltliche Analyse der pseudonymisierten Notfalldatensätze übernahm die Stabsstelle Telemedizin des UKM unter Leitung von Priv.-Doz. Dr. Christian Juhra mit Unterstützung des Zentrums für klinische Studien und des Instituts für medizinische Informatik der Universität Münster. Die vollständigen Ergebnisse der Begleitforschung sind als Anlagen zu einem vom Projektteam der gematik erstellten Abschlussbericht auf der Projektwebsite einsehbar.
Einschätzung als „sinnvoll“
Zentrale Ergebnisse der Befragung: Alle teilnehmenden Ärzte halten den NFD grundsätzlich für sinnvoll. Die Ärzte begründeten ihre Teilnahme an dem Projekt unter anderem mit der Möglichkeit zur Verbesserung der medizinischen Kommunikation und der Patientenversorgung sowie ihren eigenen Erfahrungen in der Versorgung. Auch die Möglichkeit, bei der Notfallversorgung Kenntnis von Ansprechpartnern und über den Patientenwillen zu erlangen, war ein Beweggrund. Den DPE schätzten 81 Prozent der niedergelassenen Ärzte und 86 Prozent der Krankenhausärzte ausdrücklich als „sinnvoll“ ein. In der Initialbefragung vor Beginn der Anlage von NFD/DPE lag die Zufriedenheit der niedergelassenen Ärzte mit dem PVS deutlich über der Zufriedenheit der Krankenhausärzte mit dem KIS.
Bei der zentralen Frage der Studie nach der Akzeptanz für den Anlageprozess der NFD wurden ebenfalls erhebliche Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Bereich deutlich. Mehr als 80 Prozent der 31 niedergelassenen Ärzte zeigte sich im Rahmen der Abschlussbefragung „sehr“ oder „eher zufrieden“ bei der Frage nach der Gesamtzufriedenheit mit dem Anlageprozess für NFD. Bei den Krankenhausärzten hingegen war nur gut die Hälfte mit dem Prozess „sehr“ oder „eher zufrieden“. Einer der Ärzte gab an, „sehr unzufrieden“ zu sein.
Als Gründe für diesen Unterschied konnten die problematische Datenübernahme aus dem KIS sowie die im Rahmen der Studie nicht vorgesehene Unterstützung durch medizinisches Assistenzpersonal im Krankenhaus identifiziert werden. Beides sind Aspekte, die im niedergelassenen Bereich mit 90 beziehungsweise 81 Prozent als „akzeptabel und praxistauglich“ bewertet wurden. Zudem legten Praxen, die die MFA in den Anlageprozess einbanden, im Durchschnitt deutlich mehr NFD an. Allerdings zeigten sich auch bei den beteiligten Fachinternisten mitunter Probleme bei der zügigen Übernahme von Daten in den NFD aufgrund unvollständiger Informationen im eigenen PVS.
Nahezu keine Probleme bereiteten den befragten Ärzten und MFA die Auswahl geeigneter Patienten und der medizinischen Daten für den NFD sowie deren Zuordnung zu den Eingabefeldern im PVS/KIS. Die Analyse der Inhalte der NFD durch das UKM ergab dementsprechend, dass 97,6 Prozent der angelegten NFD nachvollziehbar notfallrelevante Informationen enthielten. Die Patienten wiesen überwiegend Mehrfacherkrankungen auf, 69 Prozent waren älter als 60 Jahre. Im Durchschnitt wurden für jeden Patienten sieben Diagnosen und fünf Medikamente dokumentiert.
Aufklärung zeitaufwendig
Die Aufklärung und Einwilligung der Patienten wurde von Ärzten und Praxispersonal als zwar zeitaufwendig, dennoch überwiegend grundsätzlich positiv bewertet. Der von vielen Befragten als „groß“ beschriebene Zeit- und Anpassungsaufwand im Praxis- beziehungsweise Klinikalltag führte dazu, dass rund ein Drittel der Ärzte und der MFA im ambulanten Bereich sowie zwei Drittel der Krankenhausärzte Tätigkeiten außerhalb der üblichen Arbeitszeiten erledigen mussten.
Die Universität Erlangen-Nürnberg vermutet hier in ihrem Ergebnisbericht insbesondere für den stationären Bereich das Risiko von „Akzeptanzproblemen (…), sollten in Zukunft mehr NFD angelegt werden müssen“. Angesichts des Nutzens für die Patienten kamen die Befragten jedoch letztlich nur zu 16 Prozent (ambulant) beziehungsweise 14 Prozent (stationär) zu der Einschätzung, dass der Zeitaufwand für die Anlage von NFD „nicht angemessen“ sei.
Eine besondere Situation bestand beim DPE, für den circa die Hälfte der Ärzte einen erhöhten Informationsbedarf feststellte. Ein Teil der Ärzte erwähnte infolgedessen im weiteren Studienverlauf den DPE dann nicht mehr im Aufklärungsgespräch. Im Ergebnis legten von den 31 niedergelassenen Ärzten zehn gar keine DPE und weitere sechs Ärzte nur bis zu drei DPE an.
Die Befragung der Patienten zeigte sehr hohe Zustimmungswerte (96,3 Prozent) zu den Aussagen, dass Ärzte sie durch einen NFD „besser versorgen“ können und dass die Anlage des NFD zusammen mit dem Arzt „einfach“ gewesen sei (92,6 Prozent). Bemerkenswert erscheint die klare Zustimmung der Patienten zur künftigen Speicherung der Notfalldaten „auf meiner eGK“ (95,3 Prozent), gefolgt vom „Ausdruck auf Papier“ (11,7 Prozent), „online im Internet mit Zugang nur für Ärzte“ (11,1 Prozent), einem „Handy/Smartphone“ (4,4 Prozent) sowie zu 2 Prozent auf einem „anderen Speichermedium“ (Mehrfachnennungen möglich). Die positive Bewertung des NFD durch die Patienten bestätigte die Befragung der Ärzte und MFA, die ganz überwiegend von einer hohen bis sehr hohen Zufriedenheit ihrer Patienten berichteten.
Hausarzt als Erstanleger
Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Der Anlageprozess erwies sich als praxistauglich und akzeptabel vor allem im ambulanten Bereich und dort insbesondere bei den Hausärzten. Hier liegen vollständige Angaben zu den Patienten in einer Form vor, die eine zügige Erstellung von NFD mittels PVS ermöglicht. Für die Fachinternisten trifft dies offenbar nicht immer zu.
Im Krankenhaus war die Erstanlage von NFD eher problematisch, sodass dort vermutlich die Aktualisierung und Nutzung der NFD im Notfall im Vordergrund stehen wird.
Da von der Einbindung der MFA in alle Schritte des Anlageprozesses positive Effekte ausgingen, erscheint diese Arbeitsteilung auch künftig als unterstützungswürdig.
Die Aufklärung und Einwilligung der Patienten funktioniert zwar, sie hat sich aber insbesondere im Zusammenhang mit der Anlage von DPE als zeitaufwendig erwiesen. Die Information der Patienten über das NFDM bereits im Vorfeld des Arztbesuchs und eine Steigerung der Bekanntheit haben vermutlich positive Effekte. Für den DPE sind alternative Möglichkeiten zur Deckung des sehr spezifischen Aufklärungsbedarfs notwendig, der in Arztpraxen und Krankenhäusern nicht geleistet werden kann.
Usability als Erfolgsfaktor
Die Ergebnisse von NFDM-Sprint legen nahe, dass die neudeutsch als „Usability“ bezeichnete Benutzerfreundlichkeit der Primärsysteme (PVS, KIS) ein wichtiger Erfolgsfaktor ist. Dabei spielen offenbar sowohl das Vorhandensein der Informationen (Diagnosen, Medikation) per se, als auch die Verfügbarkeit in einer Form, die eine schnelle Übernahme oder Weitergabe dieser Informationen ermöglicht, eine wichtige Rolle.
Darüber hinaus müssen die Primärsysteme die medizinischen Anwender künftig beim Abgleich der Daten zwischen den unterschiedlichen vom § 291 a SGB V vorgegebenen Telematikanwendungen unterstützen. So fordert der Ergebnisbericht des UKM, dass der bundeseinheitliche Medikationsplan und die Medikationsangaben im NFD „interoperabel“ sein müssen, da mehr als 50 Prozent aller Patienten mit NFD drei oder mehr Medikamente erhielten und damit auch Anspruch auf einen Medikationsplan hätten.
Die – inzwischen von der gematik hergestellte – Konsistenz der Datenmodelle ist dabei nur ein erster Schritt, die Erprobung des Zusammenspiels zwischen Primärsystemen, der eGK, dem elektronischen Arztausweis und der Telematikinfrastruktur der notwendige nächste. Aus ärztlicher Perspektive wird der Erfolg der Digitalisierung der Medizin maßgeblich von IT-Systemen abhängen, die die Anforderungen der medizinischen Anwender in den Mittelpunkt stellen.